Arbeit

«Eine Zertifizierung für weitere Jahre erfolgreiches Schaffen»

In diesem Jahr werden erneut hunderte Unternehmen im Wilden Osten eine Zertifizierung erlangen oder wiedererlangen. ISO 9001 ist wohl der geläufigste Begriff. Im gesetzlich nicht geregelten Bereich wird so die Einhaltung bestimmter Anforderungen nachgewiesen. Praktisch immer auf freiwilliger Basis. Nicht so in der Medizin: Hier heisst das Credo «Ohne Zertifizierung, keine Tätigkeit». Wir haben mit Dr. med. Martin Thurnheer, Gründer des eSwiss Medical & Surgical Centers in St.Gallen, über ihre erfolgreiche Re-Zertifizierung gesprochen. Und über den viel diskutierten Fachkräftemangel in der Medizin.

Wir treffen den gebürtigen Zürcher Arzt Martin Thurnheer in der St.Galler Klinik Stephanshorn. Er ist der Gründer von eSwiss, dem grössten, privat geführten, interdisziplinären, chirurgischen und internistischen Zentrum der Ostschweiz. Sein Fachgebiet heisst «Viszeralchirurgie». Dazu gehört die chirurgische Therapie gut- und bösartiger Erkrankungen des Magendarmtraktes, die Übergewichtschirurgie, die Hernienchirurgie, die Proktologie (Enddarm-Erkrankungen) sowie «endokrine» Chirurgie (Schilddrüse, Nebenniere). Thurnheer ist ein Mann, der beeindruckt. Weil er weit weg ist vom Klischee des narzisstischen, gut gebräunten Schwarzwald-Klinik-Doktors. Thurnheer ist ein zupackender, liberaler Unternehmer. Dies zeigte sich beim Interview eindrücklich.

Herr Thurnheer, die Frage drängt: Wie geht es Ihnen und Ihren Mitarbeitenden in der aktuellen Pandemiesituation?

Die Situation ist angespannt, aber Gott sei Dank überschaubar. Heute ist noch ein Viertel aller IPS-Betten mit Corona-Patientinnen und -Patienten belegt. Es mussten Wahleingriffe im Spätherbst und Winter verschoben werden – ich hoffe sehr, die Situation entspannt sich weiter in den nächsten Wochen. Der springende Punkt sind wie tausendfach gehört nicht die Patientinnen und Patienten oder die Infrastruktur, sondern der Mangel an Fachkräften. Wir hatten im vergangenen Jahr zehn Prozent Personal-Abgänge, die wir bis heute nicht kompensieren konnten. Der Stellenmarkt ist komplett ausgetrocknet. Das macht die Situation für alle Beteiligten mühsam.

Glauben Sie, dass der Fachkräftemangel bei Ihnen als private Organisation gravierender ist als bei einer staatlichen Klinik?

Nein, das weiss ich aus den Gesprächen mit meinen Berufskolleginnen und -kollegen. Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen ist eine Realität, und dies nicht erst seit Corona. Aktuell sind gemäss entsprechenden Statistiken weit über 10’000 Pflegestellen offen, über die Hälfte davon auf einem hohen Ausbildungsniveau (diplomiert). Und diese Situation wird sich in Zukunft verschärfen.

Liegt dieser Mangel an der Attraktivität des Pflegeberufes?

Es gibt nicht den einen Grund. Meiner Einschätzung nach ist es die Kombination verschiedener Faktoren. Schauen wir auf die Demografie: Die Baby Boomers rund um den geburtenstärksten Jahrgang 1964 gehen langsam in Pension. Das führt auf der einen Seite dazu, dass viele Mitarbeitende aus dem Arbeitsmarkt wegfallen. Auf der anderen Seite werden die Menschen immer älter und brauchen entsprechende Pflege. Und ja: Es liegt auch an der Attraktivität des Pflegberufes. Der Gesundheitsbranche fällt es überdurchschnittlich schwer, Mitarbeitende über eine längere Zeit an das Unternehmen zu binden. Statistiken zeigen, dass im Durchschnitt Pflegende lediglich sieben Jahre in ihrem Berufsfeld bleiben. Wenn man das mit anderen Dienstleistungsberufen vergleicht, ist das eine unglaublich tiefe Zahl. Kurzum: Gegen die Demografie kann das Gesundheitswesen kaum ankämpfen. Aber man kann die Rahmen- resp. Standortbedingungen verbessern, in denen die Fachkräfte ihren wertvollen Dienst erbringen.

Sie tönen es an: Wie beurteilen Sie die Attraktivität des Wilden Ostens für medizinische Fachkräfte?

Leider stellen wir fest, dass wir in Bezug auf medizinische Fachkräfte immer noch ein Standortproblem haben. Das liegt sicherlich auch an der Tatsache, dass wir im Wilden Osten noch zu wenig urbane Attraktivität und Diversität haben. Die private Medizin ist zumindest in der «Viszeralchirurgie» stark untervertreten, da diese überwiegend zentralistisch in staatlichen Institutionen vertreten ist. Gerade deswegen sollte man jene nicht-staatlichen Organisationen fördern, die aufgrund ihrer Tätigkeit, ihrer schlanken Struktur, Kosteneffizienz und Professionalität, eben des «Schnellboot-Daseins», ein abwechslungsreiches Tätigkeitsfeld für Fachkräfte bieten.

Sie sprechen die Dynamik Ihrer privat geführten Firma eSwiss an. Erlauben Sie mir die Frage, warum Sie sich den eher trägen und langwierigen Prozess einer Zertifizierung antun?

Die Antwort ist einfach: Wir müssen uns zertifizieren lassen. Der Staat verlangt in gewissen Bereichen Zertifizierungen, damit eine private Institution, wie wir es sind, Behandlungen wie Übergewicht-Chirurgie oder Enddarm-Chirurgie anbieten kann. Zertifikate werden dann auf der Basis von Qualitätskriterien vergeben. Wir müssen gewisse Anforderungen erfüllen, die Fachvertreter*innen des Beschlussorgans «Hochspezialisierte Medizin» in Bezug auf gute Qualität in der medizinischen Diagnostik und Behandlung festgelegt haben.

Natürlich nimmt es mich Wunder, wie das eSwiss Medical & Surgical Center abgeschnitten hat. Was waren die grössten Diskussionspunkte bei der Zertifizierung?

Die Prüfer waren mit unserer Arbeit und unseren Arbeitsbedingungen sehr zufrieden – und es sind im Übrigen auch immer sehr nette und zuvorkommende Zertifizierer. Was bei uns immer wieder beanstandet wird, ist die Anzahl der chirurgischen Eingriffe unserer Assistenz/Oberärzt*innen. Es gibt bei der HSM-Zertifizierung einen definierten Bereich, wie viele Eingriffe durchgeführt werden müssen. Ob man nun sechs Ärzte und Ärztinnen (aktuell drei Frauen und drei Männer) hat, wie wir, oder 80, wie eine grosse chirurgische Klinik, spielt eine Rolle. Zusätzlich dazu ging es auch um unsere wissenschaftliche Aktivität. Auch hier haben wir wegen unserer Grösse weniger gute Voraussetzungen. Aber wir arbeiten dran.

Abschlussfrage: Ist ein zertifizierter Arbeitgeber der attraktivere Arbeitgeber?

Bei einer Zertifizierung werden immer auch Themen wie Strategie, Kultur, Arbeitsinhalte, Umgang mit Veränderungen, Förderung oder Vergütung erfragt und beantwortet. Ob am Ende des Tages eine potenzielle Fachkraft sich wegen eines Zertifikates für oder gegen ein Unternehmen entscheidet, glaube ich nicht. Es sind andere Dinge: Eine hohe Lebensqualität, finanzierbare Eigenheime für junge Berufsleute, attraktive Arbeitsbedingungen und eine langfristige Perspektive im Beruf. Das ist es, was bei Jungen zählt. Wohl kaum die blossen Zertifizierungen.

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