Migrant:innen in der Schweiz eine Chance geben
Der Mangel an qualifizierten Fachkräften ist in aller Munde. Doch Arbeitgeber:innen nutzen das inländische Potenzial an gut qualifizierten Berufsleuten viel zu wenig. Viele hier lebende Migrant:innen und Geflüchtete sind sehr gut ausgebildet und bringen bereits Arbeitserfahrung mit. Wenn es gelingt, diese Menschen in die schweizerische Arbeitswelt zu integrieren, profitieren alle davon. Von links nach rechts auf dem Foto: Ersan, Gizem, Jelena (ehemalinge Leiterin von HEKS-MosaiQ Ostschweiz) und Bahman.
Auch HEKS ist mit dem Fachkräftemangel konfrontiert, etwa im Bundesasylzentrum (BAZ) Altstätten SG. Dort begleiten Jurist:innen im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM) Asylsuchende im beschleunigten Asylverfahren und stehen ihnen rechtlich zur Seite. Denn angesichts der in den letzten Monaten stark gestiegenen Zahl der Asylgesuche besteht bei der HEKS-Rechtsberatung einerseits ein nachgewiesener Bedarf an zusätzlichen qualifizierten Mitarbeitenden. Andererseits unterstützt «HEKS MosaiQ», die Fachstelle für qualifizierte Migrant:innen, in der Ostschweiz (und in anderen Regionen der Schweiz) Personen mit ausländischen Ausbildungsabschlüssen, bei der Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse und beim beruflichen Einstieg. Nun konnte erstmals eine Synergie zwischen der HEKS-Rechtberatung und «HEKS MosaiQ» geschaffen werden: Drei Jurist:innen, die als anerkannte Flüchtlinge in der Schweiz leben, arbeiten heute im HEKS-Rechtsschutz des Bundesasylzentrums (BAZ) in Altstätten im Kanton ST. Gallen.
Im Interview erzählen Gizem Satilmis (32) und ihr Mann Ersan Satilmis (42) sowie Bahman Ghafouri (48), was es für sie bedeutet, hier in der Schweiz in ihrem Beruf als Jurist:innen arbeiten zu können.
HEKS: Welche Geschichte verbindet euch mit «HEKS MosaiQ»?
Bahman: Ohne die Berater:innen der Fachstelle hätte ich nicht auf Anhieb einen Job gefunden. Ich habe viele Bewerbungen geschrieben und wurde nie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Mit «HEKS MosaiQ» habe ich den Einstieg in den Schweizer Arbeitsmarkt geschafft.
Gizem: Ich stimme Bahman zu – auch ich hätte ohne die Unterstützung von «HEKS MosaiQ» keine Stelle als Juristin gefunden. Ich hatte mich schon mit einer Alternative, beispielsweise einer beruflichen Neuorientierung abgefunden, als mich HEKS als Rechtspraktikantin anstellen konnte.
Ersan: Die Chance, als Jurist zu arbeiten, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Vor einem Jahr habe ich noch nicht gut Deutsch gesprochen, aber in den letzten acht Monaten hat sich dank dieser Stelle mein Deutsch massiv verbessert.
Wie habt ihr die Unterstützung durch «HEKS MosaiQ» erlebt?
Bahman: Ich wurde von «HEKS MosaiQ» sehr eng begleitet. Meine Ansprechsperson im Team hat mich auch während der Probezeit unterstützt, Fragen gestellt und immer Unterstützung angeboten. Die Unterstützung von HEKS ist sehr wertvoll und hat mir innert kurzer Zeit neue Perspektiven geschafft. Wenn Geflüchtete hier arbeiten und Steuern zahlen können, sind sie wirklich in der Schweiz angekommen. Ohne Arbeit hat man irgendwie keine Identität. Selbst wenn ich reich wäre, würde ich arbeiten wollen, denn Arbeit ist ein Teil meiner Persönlichkeit. Um möglichst viele gut qualifizierte Geflüchtete zu erreichen und zu begleiten, wäre es sinnvoll, wenn möglichst alle Gemeinden im Kanton mit der Fachstelle «HEKS MosaiQ» zusammenarbeiten würden.
Ersan: Das Sozialamt hat mich vor zwei Jahren auf «HEKS MosaiQ» aufmerksam gemacht. Ich hatte auch einen Juristen vom HEKS-Team als Mentor an meiner Seite, der mich ein Jahr lang begleitete und mit mir die Rechtssprache übte. Er hat mich auch mit dem Schweizer Rechtssystem vertraut gemacht.»
Was waren eure Ziele bei «HEKS MosaiQ»?
Ersan: Für mich war es wichtig, dass mein Diplom anerkannt wird, damit ich als Jurist arbeiten kann. Dieses Ziel habe ich jetzt erreicht. Nächstes Jahr möchte ich mit dem Masterstudium beginnen.
Bahman: Mit der Unterstützung von «HEKS MosaiQ» wollte ich eine Stelle als Jurist finden. Nächstes Jahr möchte ich auch noch einen Master in Rechtswissenschaften machen, denn ein Schweizer Diplom wiegt mehr als mein iranisches.
Wie geht es euch heute?
Bahman: Mir geht es gut. Mit meiner neuen Arbeit bin ich wirklich in der Schweiz angekommen, nachdem ich fünf Jahre im Asylverfahren war und nicht arbeiten durfte. Die Arbeit tut mir auch psychisch gut – hier werde ich gebraucht und kann mich nützlich machen. Gerade wir Menschen mit einer Fluchtbiographie haben in den letzten Jahren schwierige Zeiten in unseren Heimatländern erlebt. Jetzt, wo wir arbeiten können, hilft uns das auf verschiedenen Ebenen sehr.
Gizem: Mir geht es auch sehr gut. Meine beiden Kinder besuchen die Kita, so kann ich arbeiten. In der Türkei würde ich ja auch arbeiten. Ich möchte ihnen immer ein gutes Vorbild sein. Deshalb ist es so wichtig, dass ich meinen Beruf in der Schweiz ausüben kann. Dann sehen meine Kinder, dass in der Schweiz alles möglich ist, wenn man will.
Wie gefällt euch die Arbeit?
Ersan: Es ist herausfordernd, sich an ein neues Land, eine neue Sprache und eine neue Arbeitskultur zu gewöhnen. Aber meine neuen Arbeitskolleg:innen im Rechtsschutz sind sehr einfühlsam und unterstützen mich. Die Arbeit macht mir sehr viel Spass. Ich arbeite im «Dublin-Team» und nehme an den Befragungen des Staatssekretariats für Migration (SEM) teil. Dadurch kann ich mein Deutsch weiter verbessern und lerne die Arbeitskultur in der Schweiz kennen. Sie ist etwas anders als in der Türkei. Unsere Kolleg:innen sind höflich zu uns und immer pünktlich. Alles ist gut geplant. .»
Bahman: Ja, da gebe ich Ersan recht. Im Iran und in der Türkei arbeitet man zudem viele Stunden und verdient wenig. Hier ist der Lohn gut. Wir sind momentan rundum zufrieden. Der interkulturelle und internationale Austausch beim HEKS-Rechtsschutz ist sehr wertvoll. Wir lernen ständig voneinander, das ist für mich sehr bereichernd. Auch unsere Teamleiter:innen unterstützen uns, und wir geniessen viel Vertrauen.
Was würdet ihr gerne anderen qualifizierten Migrant:innen und Geflüchteten mit auf den Weg geben?
Ersan: Wenn man seinen erlernten Beruf ausüben will, muss man sich das zum Ziel setzen. Zudem ist der Kontakt zu einer Beratungsperson, die sich auskennt, sehr wichtig, und die habe ich bei «HEKS MosaiQ» gefunden. Nachdem ich hier die Stelle als Jurist bekommen hatte, riefen mich viele türkische Geflüchtete aus anderen Kantonen an, die ich vorher nicht kannte. Ich habe ihnen geraten, sich an «HEKS MosaiQ» in ihrer Region zu wenden, um Unterstützung und eine passende Fachperson zu finden. Ich bin eine Art Vorbild für andere Anwältinnen und Anwälte – das freut mich sehr.»
Gizem: Zuerst dachte ich, ich müsste einen anderen Beruf erlernen, weil ich befürchtete, in der Schweiz nicht als Juristin arbeiten zu können. Aber ich hatte Glück und ich verfolgte mein Ziel. Es macht viel mehr Sinn, seine Erfahrungen und seine Ausbildung hier einzubringen. Aber viele glauben nicht, dass es möglich ist, hier in der Schweiz im erlernten Beruf zu arbeiten. Wir wissen von anderen Kolleg:innen, dass es schwierig ist, in der Schweiz eine qualifizierte Stelle zu finden. Diese Leute brauchen unbedingt Unterstützung bei der Jobsuche. Auch der Aufbau eines Netzwerkes ist zentral und sicher hilfreich.
Bahman: Die Berater:innen von «HEKS MosaiQ» sind wirklich sehr unterstützend bei der Stellensuche. Sie helfen auch dabei, eine passende Aus- oder Weiterbildung zu finden, mit der man sich gut auf den Schweizer Arbeitsmarkt vorbereiten kann. Nur dank der Empfehlung von ‹HEKS MosaiQ› habe ich diese Stelle gefunden.
Was würdet ihr gerne anderen Arbeitgebenden mit auf den Weg geben?
Ersan: Ich wünsche mir mehr Offenheit der Arbeitgeber:innen gegenüber Geflüchteten.
Bahman: Es ist wichtig, Geflüchteten einfach einmal eine Chance zu geben. Denn in der Probezeit kann man herausfinden, ob es zwischen Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber:in passt. Migrant:innen können genauso arbeiten wie andere, aber sie brauchen etwas Zeit, um die Arbeitskultur, die Sprache und das Verwaltungssystem kennenzulernen.
Wie würdet Ihr eure bisherigen beruflichen Erfahrungen in der Schweiz zusammenfassen?
Bahman: Wir haben uns hier von Grund auf ein neues Leben aufgebaut und sind sehr dankbar, dass wir hier neue Möglichkeiten erhielten. Ohne die HEKS-Fachstelle würden wir heute nicht an diesem Ort als Anwälte arbeiten.
Ersan: «Für mich heisst das Stichwort und die Lösung «HEKS MosaiQ.»
«Eine echte Win-Win -Situation»
Christian Hoffs ist Leiter und Fachverantwortlicher des HEKS-Rechtsschutzes im Bundesasylzentrum Ostschweiz. Er ist sehr froh, dass Bahman, Ersan und Gizem als Jurist:innen beim HEKS-Rechtsschutz tätig sind. «Wir sind immer auf neue, qualifizierte Mitarbeitende angewiesen. Da war die Vermittlung von ‹HEKS MosaiQ› sehr wertvoll, denn mit Bahman, Ersan und Gizem haben wir drei Mitarbeitende gewonnen, die neben juristischem Fachwissen und spezifischen Länderkenntnissen auch Empathie für die Geflüchteten sowie wertvolle sprachliche und interkulturelle Kenntnisse mitbringen. Sie haben bei uns Gelegenheit, erste wichtige Berufserfahrungen in der Schweiz zu sammeln. Diese können ihnen in Zukunft helfen, weitere berufliche Türen zu öffnen, die bisher vielleicht noch verschlossen waren. Aus unserer Sicht ist dies eine echte Win-Win-Situation für uns als Arbeitgebende wie für sie als Arbeitnehmer:innen».
Von Jelena Milosevic und Bettina Filacanavo